Rezensionen zum Buch vom Opfer und zum Rochadeangriff von F. Große

„Schach ist zu 99 Prozent Taktik“, sagte einst Richard Teichmann und der jugoslawische IM (nachträglich Ernennung 1951) Vladimir Vukovic (1898-1975) veröffentlichte mit „Der Rochadeangriff“ (1961) und „Das Buch vom Opfer“ (1964) zwei Standardwerke der Taktikliteratur, welche eine akribische und systematische Übersicht der Taktik präsentieren …

Dem Rezensenten lag als Vergleich die 2. Auflage von 1971 vor, welche auch noch das Vorwort zur ersten Auflage beinhaltet. Darin ist zu lesen, dass damals durch Zufall der Verleger (Herbert Engelhardt) Kenntnis von der serbo-kroatischen Ausgabe des Buches „Die Kunst des Schachangriffs“ nahm. Sofort begeistert von Inhalt und Systematik, mußte eine deutsche Übersetzung her. Mittlerweile fast vergessen war es quasi fast nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Klassiker sich einer Neuauflage aufdrängte. Meines Wissens gibt es neben dem hier betrachteten Buch auch heute keine systematische Betrachtung der Thematik und selbige ist in Bruchstücken über unzählige Publikationen verstreut. Eine Revision und Prüfung war im Zeitalter der EDV-Technik und Spezialprogramme notwendig.

Mit einer kleinen Einleitung und der kurzen Skizzierung der Angriffsarten wird ein Grobüberblick über Inhalt und Sprachstil gegeben. Bei letzterem fällt auf, dass die eine oder andere Formulierung dem heutigen Sprachgebrauch angepasst wurde, aber auch Diagrammpositionen (innerhalb des Buches) wurden minimal verändert und stilistische Mittel (z.B. Einrückung bei Aufzählungen) verwendet. Der Zweispaltendruck ist beibehalten worden, aber das optische Gesamtbild und damit die Lesbarkeit haben sich gegenüber der vorigen Auflage verbessert.
Vukovic geht im Sinne einer Schachpartie chronologisch in seinen Untersuchungen vor. Den ersten zwei Kapiteln sind Angriffsszenarien vor der Rochade bzw. bei Rochadeverlust gewidmet. Dazu werden sowohl Diagrammstellungen als auch ganze Partien zu Rate gezogen. Kapitel 3 und 4 fand ich sehr lesenswert: Neben einem kurzen Abriss der Geschichte des Königsdoppelschritts wird versucht, den „richtige Augenblick“ für selbigen zu erläutern.

Aber auch Hinweise wie die mögliche Überflüssigkeit, weil die Stellung Endspieltendenzen trägt (und der König möglicherweise in der Brettmitte eine bessere Stellung einnimmt) sollen das Gefühl für die Rochade schärfen und animieren zum Nachdenken vor einem gar zu hastigen 0-0 oder 0-0-0 in der realen Partie. Ganze 30 Mattbilder (oft nur als Brettausschnitte) bereiten als Basis auf die weiteren Kapitel vor.

Unter dem treffenden Stichwort „Brennpunkte“ werden die schützenden Punkte (Bauern) vor dem König f7, g7 und h7 nach deren Anfälligkeit untersucht. Während der Ausführung der kurzen Rochade f7 bekanntermaßen ein Zielobjekt sein kann, stellt Vukovic klar, dass g7/g2 und h7/h2 praktisch bei Durchführung der kurzen Rochade die wichtigsten Brennpunkte sind, „weil diese Felder für den Angreifer relativ besser zugänglich sind als die übrigen Felder des Rochaderaumes“. Mit einer Vielzahl von Beispielen (auch von Partiebeginn an) werden typische Operationen gegen die ‚Brennpunkte‘ demonstriert.

Im sechsten Kapitel wird das „klassische Läuferopfer“ untersucht. Mit 18 Seiten Umfang erreicht es nicht die Ausmaße wie das Büchlein „Das klassische Läuferopfer auf h7/h2“ von Helmut Wieteck (1989, 64 Seiten). Während das Wieteck-Buch quasi aus 50 Beispielpartien besteht, versucht Vukovic zuerst die Voraussetzungen in Worte zu fassen:

  • Weiß muß Dame, weißfeldrigen Läufer und Springer besitzen
  • Läufer muß mit Tempo nach h7 ziehen (Schach ist nicht nötig)
  • Springer muß ohne Nachteil das Feld g5, der Dame das Feld h5 zugänglich sein
  • Schwarz muß noch über die Bauern f7 oder g7 (hier kann auch ein Läufer stehen) verfügen
  • schwarze Dame auf d8 und Turm auf f8 erleichtern absolute Korrektheit des Opfers
  • wichtiger ist, dass der schwarze Springer nicht f6 und Dame/Läufer nicht auf die Diagonale b1-h7

Klingt gar nicht so kompliziert, gell? In 9 Beispielen werden die Kriterien untersucht, bevor – und das ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt – die praktischen Kriterien für die Opfer untersucht werden. Die Einschätzung der Passage „Kh6 als kritisches Abspiel“ wurde gegenüber der 2. Auflage verändert, sodass dem dort gezeigten Beispiel nur noch maximal „praktische Chancen“ zugebilligt werden. Ein alternatives (Erfolgs)-Beispiel wird nicht hinzugefügt, sodass ich mich auf die Suche gemacht und in der Partie Apppel – De Geus, Alkmaar 1983 fündig geworden bin.

Daß Reihen und Linien primär für die langschrittigen Schwerfiguren eine entscheidende Rolle bei der Rochadeattacke spielen dürfte klar sein. Welchen Einfluss die h-Linie beim „klassischen Läuferopfer“ einnimmt, ist auf jeden Fall einen Blick wert, welchen der Autor dem Leser auch nicht verwehrt. Einen sehr großen Abschnitt (46 Seiten) nimmt die Bedeutung der „Figuren und Bauern im Rochadeangriff“ ein. Insbesondere den Rollen der Bauern wird großes Augenmerk geschenkt und zehn ernstzunehmende praktische Hinweise versuchen sich als Gedankenstütze. War bislang die kurze Rochade das Objekt der Betrachtung wird im folgenden Kapitel der Angriff gegen die Fianchetto- und lange Rochade untersucht. Mit nur 8 Beispielen scheint mir dieser Abschnitt und das nähere Eingehen auf die Besonderheiten etwas zu kurz geraten, sodass ich mir hier Zusatzbetrachtungen gewünscht hätte. Um ein vielfaches besser gefallen mir hingegen die Erläuterungen und Darlegungen zur Verteidigung gegen den Rochadeangriff – man ist ja nicht immer im Vorwärtsgang! Die bislang aufgezählten (aufgezählten) Fragmente kann man sicherlich auch getrost zusammenhangslos untersuchen (selbiges wird in unzähligen Publikationen ja letztenendes (letztlich?) auch getan). Vukovic betrachtet aber im vorletzten Kapitel die Stadien des Rochadeangriffs ausgehend von den bisher im Buch dargelegten Aspekten zusammenhängend, bevor er den Rochadeangriff in das Konzept „Schachpartie“ u.a. mit Erkenntnissen von Aljechin und Capablanca einbettet.

Wirft man einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis fällt sofort auf, dass ein neues Kapitel hinzugekommen ist. Der Journalist und FM Gerd Treppner hat mit einer 39-seitigen Betrachtung die Tendenzen des Rochade-Angriffs der 60er Jahre bis heute Revue passieren lassen. Er untersucht hierbei die Tendenzen des Schachs der letzten knapp 40 Jahre und läßt natürlich „Zauberkünstler“ wie Kasparow, Topalow oder Judit Polgar mit kompletten Partien neben weniger bekannten Spielern auftrumpfen, um die Entwicklung auch eventuell auch Einstellung der Spieler zu verdeutlichen. So verrät Pavle Radic zu seiner Partie Radic – Arendt (Deutsche Mannschaftsmeisterschaft 1973), dass er keineswegs die komplette Kombination durchleuchten konnte, aber Angriffspotential mit der Notbremse „Dauerschach“ gesehen hat. Eine sympathische Einstellung! Noch eine Anmerkung zum Erscheinungsbild: Während ich an der Qualität des Seitenlayouts, wie auch der hochwertig gebundenen Aufmachung keine Kritikpunkte zu vergeben habe, finde ich die (einheitliche) Covergestaltung der letzten Rattmann-Veröffentlichungen schon zu monoton, weswegen ich das aus meiner Sicht gelungene Frontbild der 2. Auflage hier präsentiere, damit es nicht in Vergessenheit gerät.

FAZIT

Die computergestützten Überarbeitungen der Bücher sollten – laut Aussage des Verlags – nicht den Inhalt und Charme der Klassiker verfremden. Aber (heutzutage) fehlerhafte Tatsachen wollte man auch nicht publizieren und hat somit vermieden einen billigen Reprint auf den Markt zu bringen. Das Motto lautete: So viel Vukovic wie möglich – so viel Neues wie unbedingt nötig.“ Insgesamt sind die Änderungen (zumindest im „Rochadeangriff“ konnte dies verifiziert werden) geringer ausgefallen, als der ein oder andere Computergläubige vielleicht vermuten mag. Während beide Bücher über Spieler- und Stichwortverzeichnis verfügen ist, das Eröffnungsverzeichnis (zusätzlich auch nach ECO) nur im Rochadeangriff vorhanden. An Druckgestaltung und Bindung gibt es nichts auszusetzen!

Wer hier denkt, dass Kombinationsdiagramm an Kombinationsdiagramm mit „Opfer-Opfer-Matt“ aneinander gehäuft sind, der muß sich eines besseren belehren lassen. Das hier ist kein Buch, welches grundlegende Schachtaktik erklärt, sondern den Blick zielstrebig gen König gerichtet! Viele Erläuterungen, welche sich auch nur indirekt mit dem Angriff gegen den Monarchen beschäftigen (so z.B. die „Rolle des Bauernzentrums“ oder die „Verteidigung durch Gegenstoß im Zentrum“) bilden einen sehr gelungenen Gesamteindruck. Mir ist kein Buch bekannt, welches derart systematisch die Angriffsmotive untersucht. Das Revival dieser Untersuchungen war aus meiner Sicht überfällig!